16 Interessierte trafen sich am 13. August beim Stammtisch des Ortsverbandes Kernen-
Weinstadt von Bündnis 90/Die Grünen, um sich vom Zeitzeugen Reinhard Voigt über seine
persönlichen Erfahrungen in der DDR berichten zu lassen. Bei der Begrüßung des Gastes und der Teilnehmer durch ein Mitglied des Ortsverbandes wurde kurz erklärt, dass der Grüne Stammtisch in Kernen am zweiten Mittwoch im Monat stattfindet, der diesmal auf den 13. August fiel, was der Anlass war, dass man sich mit dem Thema des Lebens in der DDR auseinandersetzen wollte. Schließlich heißen „die Grünen“ eben auch „Bündnis 90“.
Tatsächlich fusionierte die Partei der Grünen in der DDR mit dem westdeutschen Grünen bereits im
Dezember, nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990, bei der die westdeutschen Grünen unter die 5% Hürde fielen, aber die Vertreter der Bürgerbewegungen der DDR („Neues Forum“, „Initiative Frieden und Menschenrechte“ (IFM) und „Demokratie Jetzt“), die mit den „Grünen in der DDR“ mit einer gemeinsamen Liste antraten, in den deutschen Bundestag einzogen. Die Fusion mit den Bürgerbewegungen, die sich als „Bündnis 90“ als Partei sogar erst 1991 gründeten, und sich erst im Mai 1993 mit der Partei „Die Grünen“ fusionierte.
Voigt stellte seinem Erfahrungsbericht ein Gedicht über Mauern voran und berichtete dann über seinen Werdegang, der von der Ausbildung als Fernmeldemonteur zum Beruf als Pfarrer geführt hatte. Obwohl „Glaube“ im Sozialismus nicht gern gesehen wurde, wurde die Kirche geduldet. So waren dem Gast vor allem die Kirchentage als wichtige Veranstaltungen in Erinnerung, in der der Einzelne Gelegenheit hatte, sich landesweit mit anderen Gläubigen zu treffen und auszutauschen. Die Ökumenische Versammlung in der DDR wollte christliche Kirchen zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung bewegen – als eine der ersten in Europa. Es gab drei Vollversammlungen von Februar 1988 bis April 1989.
Das erste Miterleben von Demonstrationen erinnerte er sich, als in Leipzig die Universitätskirche gesprengt wurde und auch das Kolleg des theologischen Seminars aufgelöst werden sollte. Als er später in Berlin die Telefonseelsorge der Kirche mitaufbaute, nahm er dies als Freiraum für die Bürger war, überhaupt einmal mit anderen über ihre Probleme zu sprechen. Durch seine Vorkenntnisse als Fernmeldemonteur war ihm aber durchaus klar, wann Mitarbeiter der Staatssicherheit sich zu Gesprächen hinzuschalteten. Ansonsten nutzte er die Freiräume, die Kirche – zum Beispiel bei einem Erinnerungs- und
Trauer-Gottesdienst für die Massaker am Tian’anmen-Platz: vor der Kirche waren bereits
Mannschaftswagen der Volkspolizei vorgefahren, doch er konnte das Ablegen der weißen Blumen am Schaukasten mit der Beschreibung des Gottesdienstes so organisieren, dass kein Besucher festgenommen werden konnte. Die negativsten eigenen Erfahrungen mit der Stasi machte er dann nach der Wende, als sich herausstellte, dass eine Pfarrers-Kollegin, wenn auch gezwungener Maßen, inoffizielle Mitarbeiterin des Inlandsgeheimdienstes der DDR war – eine für ihn sehr erschütternde Erkenntnis.
Im anschließenden Gespräch konnten die Anwesenden Rückfragen stellen. Warum dieser große Frust in den ostdeutschen Bundesländern bestehe, der die Wähler nun zu solchen Wahlergebnissen brachte. Wo seien die sozialistisch und liberal denkenden Menschen jetzt, wo so viele Leute faschistisch oder radikal wählen, um es „denen da oben“ oder „der Regierung“ mal zu zeigen. Mancher Anwesender begründete dies mit dem Wegfall der Identität, durch den rasanten Aufkauf von Unternehmen durch westdeutsche Firmen, die diese dann versilberten, doch dann von dem Geld nichts im Osten ließen. Biographien gingen zu Bruch, Identitäten kamen ins Schwanken: das wofür man Jahrelang gearbeitet hatte, war nichts wert. Die Bürger der DDR wurden einfach ins kalte Wasser der Marktwirtschaft geschmissen, stellte ein Anwesender fest.
Möglich auch, dass die fehlende Sozialisation in einer demokratischen Medienlandschaft und Gesellschaft, in der ungeschrieben definiert ist, was, und wie man etwas sagt, dann vollends dazu führte, den Medien und deren Widerspiegelung des gesellschaftlichen Geschehens zu misstrauen. Das eigene Erleben des Alltags, hätte man mit eigenen Worten, doch anders dargestellt. Für jemand, der 40 Jahre lang gleichgeschaltete, zensierte Medien gewohnt ist, liegt die Vermutung nahe, dass diese Diskrepanz daran liegt, dass auch westdeutsche Medien gleichgeschaltet und manipuliert sind – und daher als „Lügenpresse“ bezeichnet werden darf (obgleich dieser Vergleich selbst aus dem totalitären System des dritten Reiches stammt). Dies mag den Boden bereitet haben, dass rechtsradikale Ideologen, die allerdings aus Westdeutschland kamen, diese unzufriedene Stimmung nutzten, um Rechtsradikale und verdeckte Neonazis, die es im Osten, wie im Westen gab, zu mobilisieren. Die Folge sind Wahlergebnisse, wie wir sie heute erleben.
Für die westdeutschen Grünen war die Deutsche Einheit kein besonders Anliegen – sie hätten eine Zweistaatenlösung favorisiert und waren von der schnellen Wiedervereinigung gar nicht so begeistert. Langjährige Grünen-Mitglieder aus dem Südwesten, die an diesem Abend anwesend waren, bestätigten dies, wobei dennoch die Berichte über Geflüchteten in der Prager Botschaft oder die Montagsdemonstrationen seinerzeit nahe gingen. Eine Teilnehmerin, die gehäuft Besuche in West-Berlin machte und die Grenzübertritte für die Transitfahrt als immer wieder sehr bedrückend und schrecklich empfunden hatte, berichtete dann dennoch, das der Fall der Mauer für sie einen positiven, emotionalen Schock bedeutete.
Der Partei „die Grünen“ schwebte dann allerdings eine andere, gemeinsame Verfassung vor, die erst erarbeitet werden sollte. Lieber Entmilitarisierung und ökologischen Umbau statt Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Datenschutz, Frauengleichstellung und Diskriminierungsverbote für Homosexuelle und Behinderte sollten Verfassungsrang bekommen. Doch es kam anders. Vor allem auch, weil die erste demokratisch gewählte Volkskammer der (noch) DDR ihren Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes beschlossen hatte. Zu groß war wohl die Sehnsucht, sich damit auch der als Besatzungsmacht erlebten, im Land anwesenden Teilen der roten Armee zu entledigen. Und: dies alles ging nur solange Michail Gorbatschow noch an der Macht war. Bedauerlich, dass gerade die Partei, die den Wandel der Einheit anders gestalten wollte, als die damals regierende CDU und FDP, nun am meisten abgestraft wird, für deren Konsequenzen.
Zudem bestanden in der Sehnsucht nach demokratischem Wandel und Reformen zu einer solidarischen, gerechten Gesellschaft große Überschneidungspunkte zu den damaligen Bürgerbewegungen der DDR. Doch eine Vielzahl der Akteure dieser Gruppen hatte sich schon in den 90er Jahren enttäuscht aus der Politik zurück gezogen oder einzelne sich den anderen großen Parteien, wie SPD oder CDU zugewandt.
Mit großem Dank der Anwesenden wurde dem Zeitzeugen von einem der Vorstände des Ortsverbandes Kernen-Weinstadt, Martin Silber, noch ein Präsent überreicht, bevor die Teilnehmer sich langsam auf den Heimweg machten.
Autor: Joe Wagner